Liebe Mit-Menschen ¹
- colinarthur0
- 1. Jan. 2022
- 8 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 13. Sept. 2022
Wie auch bei den letzten zwei Neujahrsmails möchte ich euch Blitzlichter aus meinem teils privaten und beruflichen Alltag und gewisse Überlegungen für eure Lebenswelt mitgeben.
Blitzlichter:
14. Dezember. Ich sitze bei meiner Dentalhygienikerin auf dem Zahnarztsessel und lasse mir meinen Zahnstein entfernen. Sie hat ihren Arbeitsort gewechselt und ich sitze auf einem Stuhl mit ultramoderner Umgebung. Oben an der Decke läuft auf Netflix «The Planet», was im Gegensatz zu meinem Mund doch eine recht abwechslungsreiche und beschauliche Natur über den Bildschirm flimmern lässt. Weshalb ich dieses Blitzlicht mitteile, dazu später mehr. Ah, und übrigens hat die Dentalhygienikerin mit einem Zungenreinigungsgerät meine, wie sie gefunden hat, doch sehr intakte Oberfläche der Zunge, gereinigt!
Oder da ist dieser Moment im Juni 2019, als ich in einer Familie arbeite und ich diesem doch sehr beissenden Geruch aus Kot und Urin begegne und sehe, dass eine Hose mit diesen Exkrementen in der Badewanne liegt. Erstaunlich dieser Geruch, den ich sofort erkenne. Hat der Geruch etwas mit Angst 2 zu tun, weil ich auf die Orientierung/Sicherheit von Kindern geschult bin?
Nun bin ich in meinem dritten Ausschnitt in meinem Leben, der doch einiges mit der Pandemie zu tun hat. Ich sitze in einer Supervision, die ich leite und wir arbeiten an der Selbstfürsorge. Es war Anliegen der Teamleiterin, dass wir über dieses Thema sprechen und jeder doch soweit er möchte, seine sehr persönliche Betrachtungsweise einbringt sowie den Umgang damit preisgibt. Ich achte peinlich darauf, dass die Selbstfürsorge nach Möglichkeit nur beschrieben wird und die Zuhörenden keine Wertungen vornehmen. Es gelingt so gut, dass ich in einem anderen Team mit dieser Fragestellung arbeite.
Die Weiterbildung an der Fachhochschule in Zürich, bei der es um Nähe und Distanz geht, die es auszubalancieren gilt. Auch da habe ich einen beschriebenen Abschnitt, bei dem es um die Wahrnehmung geht. Im Arbeitspapier, das ich für diesen Schulungstag vorbereitet habe, schreibe ich: «Zudem reagieren die Sinne, beziehungsweise nehmen die Sinnesorgane etwas war, was in unserem Hirn zu einer Reaktion führt und machen uns über diese innert kurzer Zeit Bilder von Situationen oder Individuen. Dabei ist die visuelle Wahrnehmung eine der wichtigsten Sinneswahrnehmungen, danach das Hören, also die auditive Wahrnehmung, das Tasten, die taktile Wahrnehmung, das Schmecken über die Zunge als gustatorische Wahrnehmung und das Riechen, die olfaktorische Wahrnehmung». Sicher eine sehr individuelle Sinneswahrnehmung, die bei jedem Menschen mehr oder weniger ausgeprägt ist. Weiter schreibe ich, «Wenn es intensiv nach Urin riecht, kann es ein Gefühl von Ekel hervorbringen, das über das Riechorgan erkannt wird. Wenn z.B. ein immer gleicher modriger, verrauchter Duft in einer Wohnung liegt und die Kleider nach dem Einsatz danach riechen.» Auch hier reagieren wir über das Riechorgan und nehmen innert Millisekunden wahr und bewerten, bevor bei uns ein Bewusstseinsprozess stattfindet. Bei mir hat sich an einem lauen Tag im Juni 2019 bei einem Familieneinsatz tatsächlich ein Geruch eingeschlichen. Dieser beissende Geruch, der des Kotes und Urins, der ev. etwas speziell war und ich mich nicht an ihn gewöhnen kann. Der Duft löst eine Erinnerung und ein Gefühl aus und später erfahre ich, dass das Mädchen in der Familie eingekotet hat, was mich in diesem System aufhorchen liess.
Im Umgang mit Gerüchen und die dazugehörigen Gefühle setzten die persönliche Selbstfürsorge als ein zentrales Element in der Arbeit mit Familien voraus. Wichtig ist es die eigenen Bedürfnisse, im Speziellen die eigene Sicherheit und Orientierung zu kennen.
Weiter gibt es einen Augenblick in diesem Jahr, der mir als sehr zentral für diesen Text in den Sinn gekommen ist. Lapidarer Start eines Satzes, aber es hat sich wirklich so zugetragen und es geht dabei wieder um die Sinne! Ich war Mitte dieses Jahres in einer Visionssuche in der Steiermark und habe da über vier Tage alleine in dieser aussergewöhnlichen Natur auf ca. 1800 Meter Höhe über Meer verbracht. Und da hatte ich viel Zeit mich mit meiner Biografie und meiner aktuellen Lebenssituation auseinander zu setzen. An einem dieser Tage sass ich da auf einem mit Gras überwachsenen Weg und schaute hinunter auf einen Bachlauf. Ich fuhr mit meinen Händen durch das Gras und nahm diesen etwas herben Geruch wahr. Es handelte sich dabei um den «Alpenthymian» 3, wie ich die kleinen Stauden nannte. Ein wunderbarer Geruch, wenn all die Sinne in mir offen sind und ich geradezu auf einen solchen Geruch anspringe. Auch haben mir die zehn Tag in den Bergen der Steiermark einiges an Selbsterkerkenntnis, ev. für die Selbstklärung oder Selbstkundgabe gebracht. Unter anderem ist mir in dieser Zeit auch klar geworden, wie ich als Familienarbeiter gearbeitet habe, wie mir aus der eigenen Kindheit heraus sogenannte «klimatische Antennen» entstanden sind. So bin ich «Wetterspezialist für das Klima in meiner Ursprungsfamilie» geworden und erkenne die Bedeutung, die es für meine heutige Arbeit hat. Eine Belastung und gleichzeitig Ressource, die mir im Laufe meiner Sozialisation bis heute immer bewusster geworden ist.
Die Sinne:
72 Stunden nachdem ich bei der Dentalhygienikerin war, las ich folgendes: Sie wurden uns als positiv auf COVID-19 getestete Person gemeldet und müssen sich SOFORT IN ISOLATION begeben. (…) Freundliche Grüsse, Contact Tracing Kanton Zürich. Nun diese Situation holte mich ein, nachdem ich ein sehr starkes Kopfweh hinter mir hatte und mich testen liess. Da ich häufig Kopfweh hatte, war dies nichts Aussergewöhnliches. Nun ich war gespannt, was mit meinem Riechorgan geschieht. Werde ich diesen Sinn verlieren. Nun ich hatte Glück, durch zwei Aspirin, die mein Blut verdünnten, hatte ich keine körperlichen Beeinträchtigungen mehr. Und meine Lunge, sowie alle anderen Körperteile waren/sind weiterhin intakt.
Nun, wenn ich die oben genannten Blitzlichter betrachte, blieb mir die Frage nach dem Geruchssinn und seine Bedeutsamkeit. Vor einigen Tagen hatte ich unglaubliche Kopfschmerzen, die an eine gewisse «Brutalität» grenzten. Nein keine Angst, ich werde nun nicht darüber debattieren, ob sich Mensch/Individuum nun impfen lassen sollte oder nicht. Ich habe es nicht getan, konnte mir den impffreien Status leisten, da ich eine gute Selbstfürsorge 4 habe. Und auch weil ich gesellschaftlich so privilegiert bin, impffrei zu sein, wahrscheinlich auf Kosten anderer 5.
Mit den Studierenden habe ich in einem Kurs über Kommunikation und Interaktion am vierten Axiom 6 von Watzlawick gearbeitet. Darin kommen die Syntax und die Semantik vor. Eines der Beispiele, die zur Beschreibung dienen, ist der Schüler, der vor dem Lehrer steht und weint. Die Semantik, ist dadurch gegeben, die Syntax fehlt, also die Frage, weshalb weint der Junge? Es geht bei dieser Beschreibung um die Sinne Sehen und Hören. Andere wie die olfaktorische und taktil-kinästhetische Sinne fehlen und wurden/werden wissenschaftlich nicht untersucht.
Gerüche prägen und leiten uns im Alltag. Trotzdem neigen wir dazu sie zu vernachlässigen, denn auch sie müssen gepflegt werden. Und durch dieses Virus ist die Gefahr gross, dass wir sie verlieren für eine Zeit, sie nicht Pflegen im Sinne der Selbstfürsorge. Im Buch «Die Nase vorn. Eine Reise in die Welt des Geruchsinns», von Bill Hansson (2021) habe ich Antworten dazu gefunden. Er spricht da vom Bluthund, der «300 Millionen Rezeptoren» hat. Wir Menschen, so habe ich gelesen, haben gerade einmal sechs bis höchstens 12 Millionen Rezeptoren, sind was den Geruchssinn betrifft, hier deutlich unterprivilegiert. Weiter schreibt Hansson (2021, S. 97), «Als man die äussere Aerodynamik des Schnupperns und der Duftwahrnehmung von Hunden untersuchte, stellte sich heraus, dass Hunde über die Quelle eines Geruchs ausatmen. Die Schlitze leiten die Luftströmung viel mehr seitlich und nach hinten von der Quelle weg. Damit wird vermieden, dass die Quelle des Geruchs beeinträchtigt oder verunreinigt wird, und gleichzeitig ist gewährleistet, dass die Düfte vorwärts in Richtung der Nasenöffnung geleitet werden. Hunde «mustern» die Geruchsquelle und schnuppern häufig; am Ende haben sie sich auf die Quelle «eingeschossen» und treiben die Geruchsmoleküle in der Nase aufwärts bis zur Riechschleimhaut, dem olfaktorischen Epitel» 7. Hunde sind uns Menschen einiges Voraus und ihr Sehvermögen hat nicht die gleiche Bedeutung, wie in unserer digitalisierten, visualisierten Welt. Im Buch fand ich folgende Ausschnitte, die ich hier noch kurz zitieren möchte, die für die professionelle Arbeit von Bedeutung sind. Weiter erwähnt Hansson (2021): «Unsere Nase ist in der wissenschaftlichen Welt nach wie vor ein gewisses Rätsel. Sie ist kompliziert und empfindsam (2021, S. 54). Bekannt ist, dass die Duftmoleküle über das feuchte Riechepithel hinwegstreichen, das oben in den Atemwegen im Dach der Nasenhöhle liegt; dort kommen sie in Kontakt mit den Millionen (…) Durftrezeptorzellen, die in dieser Schleimhaut eingebettet sind» (2021. S. 56). Also haben wir wenig zu bieten, im Vergleich zu den Bluthunden. Zudem möchte ich die Bedeutung des Geruches mit unseren Gefühlen in Verbindung bringen. Dazu schreibt Hansson (2021, S. 57): «Die Duftmoleküle binden sich an die Rezeptorproteine, diese aktivieren die Rezeptorenneuronen, und die wiederum senden elektrische Signale (Nervenimpulse) an den Riechkolben im Gehirn. Dabei umgehen sie den Thalamus (der akustische und visuelle Sinnessignale verarbeitet) und gelangen direkt zum limbischen System, was uns das Gefühl einer tiefen Verbindung mit unseren Gefühlen vermittelt. Unser Geruchssinn lebt im limbischen System, jenem Gehirnteil, der für Gefühle, Stimmung, Verhalten und Gedächtnis zuständig ist».
Diese Erkenntnis hat mich leider nicht «aufriechen», aber mehr aufhorchen lassen. Also hat Hansson (2021, S. 64) die Bedeutung des Riechorgans mit folgenden Sätzen erklärt: «Das Ganze ist vermutlich ein Teil eines evolutionären Bindungsmechanismus 8. Glücklicherweise geht es dabei wahrscheinlich mehr um den Wunsch, dem eigenen Kind so nahe wie möglich zu sein – und es zu beschützen – als um echte kannibalische Gedanken. Gerüche können für zwischenmenschliche Bidungsmechanismen ein leistungsfähiges Hilfsmittel sein.» Also haben wir neben der Wirkung des Pheromons 9, das wir wahrnehmen auch einen Bindungsmechanismus, der über das Riechorgan ausgelöst wird. Wir können also nicht nur auf die Sinne des Hörens und Sehens verlassen, auch die anderen Sinne sind von Bedeutung, nur welche Wirkung sie genau haben, darüber bin ich mir noch zu wenig «bewusst»! In dem «Sinne» wünsche ich euch ein wohlduftendes, gelingendes und Sinnesbewusstes 2022! Colin Bibliographie: Hansson, B. (2021). Die Nase vorn. Eine Reise in die Welt des Geruchsinns. Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag GmbH. 1 Freunde, Bekannte, Verwandte, Sozialarbeitende, Führungskräfte, ehemalige Mitarbeitende und alle anderen, die ich nicht vergessen möchte. 2 In einer Studie konnten die Versuchspersonen beispielsweise überdurchschnittlich häufig zwischen dem »glücklichen« und »ängstlichen« männlichen Geruch unterscheiden, was die Vermutung nahelegt, dass Menschen letztlich doch chemische Signale abgeben, die mit Angst und Frucht im Zusammenhang stehen. Und was vielleicht noch faszinierender ist: Offensichtlich können wir sie auch wahrnehmen. Hansson, 2021, S. 70. Später schreibt er weiter: (…) interessanter ist aber, dass auch bei Mäusen nachvollziehen lässt. Hier zeigte sich, dass der Geruch der Tränen von Jungtieren die Aggressionen ausgewachsener Männchen vermindert. Hansson, 2021, S. 71. 3 Der Langhaarige Thymian (Thymus praecox subsp. polytrichus), auch Gebirgs-Thymian, Gebirgs-Quendel oder Alpen-Thymian genannt, ist eine Unterart des Frühblühenden Thymians (Thymus praecox) aus der Gattung der Thymiane (Thymus) innerhalb der Familie der Lippenblütler (Lamiaceae). Zugriff am 29.12.21 unter: https://de.wikipedia.org/wiki/Langhaariger_Thymian 4 Hinterfragen dieses Trendwortes Selbstfürsorge: Zugriff am 29.12.21 unter: https://hph-psychologie.de/was-ist-selbstfuersorge-wirklich-zwischen-trendwort-strategie-und-faehigkeit/ 5 Hier ein Artikel aus der Zeit zum gesellschaftlichen Status, den ich dieses Jahr gelesen habe von Elisabeth von Tadden zum Sinn & Verstand, mit dem Beitrag »Das teure Nest«. Sie schreibt, die Leistungsgesellschaft sei eine Illusion: Es reiche nicht mehr, sich anzustrengen. Fast nur Erben könnten sich noch Eigentum leisten, demokratisch sei dies nicht. Zugriff am 29.12.21 unter: https://www.zeit.de/2021/06/soziale-ungleichheit-erbe-eigentum-immobilienmarkt-deutschland?utm_referrer=https%3A%2F%2Fwww.google.com%2F (Leider ist der Artikel Kostenpflichtig) 6 Wunderbar über einen Film dargestellte Axiome: Zugriff am 29.12.21 unter: https://studyflix.de/biologie/die-5-axiome-von-paul-watzlawick-2698 7 Die Riechschleimhaut bzw. das Riechepithel bei Säugetieren (Regio olfactoria) enthält die Sinneszellen des Geruchssinns. Sie ist jene Schleimhaut, mit der die Nasenhöhle im obersten Bereich ausgekleidet ist. Die Chemorezeptoren (Geruchsrezeptoren) der Riechzellen sind dafür verantwortlich, dass wir eine Vielzahl von Gerüchen aufnehmen und unterscheiden können. Bei anderen Tierstämmen können die Riechzellen an völlig anderen Körperstellen sitzen – wie bei Insekten und vielen Wassertieren an den Fühlern. Zugriff am 29.12.21 unter: https://de.wikipedia.org/wiki/Riechschleimhaut 8 Lundström, J.N., Mathe, A., Schaal,B., Frasanelli, J., Niezsche, K., Gerber, J. & Hummel, T., (2013). Maternal status regulates cortical responses to the body odor of newborns. Frontiers in psychology, 4,597. https://doi.org/10.3389/fpsyg.2013.00597 9 Eine Geruchssubstanz, die eine Nachricht vermittelt, nennt man Pheromon. Ein typisches Beispiel finden wir bei den Hündinnen: Wenn sie läufig sind, senden sie eine Geruchsnachricht aus, die allen Rüden in der Umgebung herbeiruft und sagt: »Komm und paare dich mit mir!« (…) Die übrigen Botenstoffe übermitteln Nachrichten zwischen verschiedenen Arten. Hier unterscheidet man in der Regel danach, ob der Absender oder der Empfänger von ihnen profitiert. Nutzen sie dem Empfänger, spricht man von Kairomonen. Ein typisches Beispiel wäre der Geruch, den ein Beutetier – Beispielsweise eine Maus – abgibt und der dann von einem Räuber, in diesem Falle oftmals einer Katze, aufgenommen wird. Ist der Geruch dagegen für den Absender nützlich, handelt es sich um ein Allomon. In diese Kategorien gehören Locksubstanzen, aber auch Verteidigungsmechanismen wie der des Stinktiers, das eine stinkende Flüssigkeit versprüht, um Feinde abzuwehren. Und schliesslich kann ein Geruchsnachricht auch beiden Seiten nutzten. Eine solche Substanz nennt man Synomon. Das klassische Beispiel ist hier der Duft von Blüten, die von Insekten bestäubt werden: Die Blüte befruchtet, und das Insekt erhält eine Belohnung in Form von Nektar und Pollen.




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